Gerhard Hirschfeld
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
20. November 2023
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.20.11.2023

Um es vorwegzusagen: Auf dieses Buch hat die internationale Forschung zum Ersten Weltkrieg seit langem gewartet. Dabei mangelt es keineswegs an Studien zur „Occupatio Bellica“, der Unterwerfung feindlichen Staatsgebiets, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der militärischen oder zivilen Herrschaft in den von den jeweiligen Armeen besetzten Territorien sowie den Reaktionen der unterworfenen Bevölkerungen von 1914 bis 1918 auseinandersetzen. Allerdings fehlte es bislang an einer kriegsrechtlichen Einordnung – was darf eine Okkupationsmacht, wo überschreitet sie ihre vom Kriegsvölkerrecht gesetzten Grenzen? – wie auch an der genauen Schilderung jener eskalierenden Dynamiken einer Besatzungsherrschaft, die wiederum entscheidenden Anteil an der allgemeinen Gewaltentwicklung des „Großen Krieges“ hatten.

Dass die Freiburger Historikerin sich vordringlich mit den von der 6. Armee mit ihren überwiegend bayerischen Verbänden besetzten nordfranzösischen Gebieten befasst, ist nicht nur der umfangreichen Überlieferung an Nachweisen geschuldet. Sowohl bereits während des Krieges wie auch noch nach Kriegsende wurde das von den Deutschen okkupierte und vier Jahre lang verwaltete „Nordfrankreich“ sowie insbesondere die Stadt Lille, die Hauptstadt des damaligen Département Nord, gleichsam zum „Synonym für die gesamte Besatzung“ und dies zugleich in einem doppelten Sinn: Während die französische Seite hier gleichsam exemplarisch die Grausamkeiten und Verbrechen der deutschen Besatzungsherrschaft manifest sah, bemühten sich die deutschen Militärverwaltungen wie später noch die Nachkriegsregierungen, derartige Vorwürfe zu entkräften und die „Normalität“ der Verhältnisse vor Ort während des Krieges herauszustellen.

Ebenso umsichtig wie fair beurteilt die Autorin die bisherigen Forschungen zur deutschen Besatzung Nordfrankreichs. Diese befassten sich vorwiegend mit dem Schicksal der Zivilbevölkerung, wobei sie sich vor allem auf Selbstzeugnisse und andere französische Quellen stützten. Die hieraus resultierenden innerfranzösischen Forschungskontroversen (etwa „Kriegskultur“ versus „Besatzungskultur“) wie auch die Anstöße britischer und US-amerikanischer Historiker/innen (beispielsweise zu einer spezifisch deutschen Militär- bzw. Kriegskultur) verweisen zwar auf wichtige Themen, aber sie vermögen nicht die zentrale Frage nach den Ursachen für die Praxis und das Ausmaß der Gewalt in den von deutschen Armeen besetzten Territorien zu beantworten.

Hier setzt Larissa Wegners umfassende Studie ein, wobei sie nicht nur, gestützt auf eine überaus gründliche Auswertung der militärischen und administrativen Archivalien zur Besatzungsherrschaft, die bislang weithin vernachlässigte deutsche Perspektive einbringt. Ebenso bedeutsam ist der von ihr im ersten Kapitel detailliert erörterte völkerrechtliche Rahmen, das ius in bello, wie es im Regelwerk der Haager Landkriegsordnung (HLKO) vor 1914 niedergelegt wurde. Im Gegensatz zu den eher demokratisch orientierten Nationen (wie die USA oder Großbritannien) lehnten allerdings die autoritären Monarchien Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn eine völkerrechtlich bindende Eingrenzung des Krieges ab und betonten stattdessen kampfbedingte Zwangssituationen, die jeweils eigene militärische Antworten verlangten.

Eng verknüpft mit diesen völkerrechtlichen Fragen sind jene kriegerischen Ereignisse beim Vormarsch der deutschen Truppen durch Belgien und Nordfrankreich, die sich heute mit dem Begriff der „deutschen Kriegsgräuel von 1914“ verbinden. Auf die Gewalttaten unter dem Signum einer Franktireur-Hysterie der deutschen Soldaten, denen etwa 5.500 belgische und 900 französische Zivilisten, darunter auch Frauen und Kinder, zum Opfer fielen, geht die Autorin daher ausführlich ein. Zur Begründung für diese zunächst überraschende geographische Weitung ihrer Studie verweist sie auf den von ihr gewählten Forschungskontext aus Kriegsrecht, Kriegführung und Besatzungspraxis, der durch eine Forschungsdebatte jüngeren Datums zum belgischen „Franktireurkrieg“ zusätzliche Bedeutung erhalten habe. Zutreffend spricht Larissa Wegner hierbei von „Dynamiken entriegelter Gewalt“. Die im „Gewaltraum“ Belgien erprobte deutsche Militärdoktrin mit Erschießungen ohne Gerichtsverfahren, Geiselnahmen und Kollektivstrafen fand ihre Fortsetzung, wenngleich in deutlich gemilderter Form, in den okkupierten Gebieten Nordfrankreichs.

Die nachfolgenden Kapitel dieser exzellenten Untersuchung widmen sich der eigentlichen Besatzungszeit. „Das Heer versorgen und die Heimat entlasten“ wurde zur bestimmenden Devise für das nordfranzösische Etappengebiet, dessen Funktion in der Verbindung zwischen Front und Heimat bestand. Anschaulich skizziert die Autorin die Organisation und die Aufgaben der überaus komplexen Besatzungsverwaltung, deren Realität nicht zuletzt von institutionellen wie personellen Widersprüchen und ständigem „Kompetenzgerangel“ bestimmt war. Das Ergebnis war ein „unerbittlich geführter Wirtschaftskrieg“. Für Larissa Wegner ist dies der „eigentliche Totalisierungsprozess“. Nicht zuletzt aufgrund der durch die britische Seeblockade verursachten katastrophalen Versorgungslage in Deutschland wurde Nordfrankreich zu einem vordringlichen Ausbeutungsziel. Zwar erlaubten sowohl die HLKO als auch Kriegsgewohnheitsrecht gewisse Beschlagnahmungen bei der okkupierten Bevölkerung, doch waren diese auf den Unterhalt der Besatzungstruppen beschränkt. Demgegenüber erweiterte und verschärfte die Besatzungsverwaltung ständig ihre Forderungen an die einheimischen Behörden, indem sie sich über die Bestimmungen der HLKO wie auch die wirtschaftlichen Engpässe vor Ort schlicht hinwegsetzte. Das galt für den Abtransport von Rohstoffen aller Art nach Deutschland ebenso wie für die Erhebung von Steuern und weiteren Abgaben, um auf diese Weise die Kriegführung des Reiches zu finanzieren. Sofern überhaupt Bedenken bestanden, wurden diese stets „den eigenen Interessen untergeordnet“.

Ihr besonderes Augenmerk richtet die Autorin auf die prekäre Versorgung mit Lebensmitteln im besetzten Nordfrankreich. „Es kann in der Tat nicht angängig erscheinen, dass die Bevölkerung unseres Feindes unter günstigeren Bedingungen lebt als unsere eigene in Deutschland. Die Bevölkerung des besetzten feindlichen Gebietes muss erkennen und fühlen, dass wir die Herren des Landes sind; der Krieg muss schwer auf ihr lasten“ lautete ein im Auftrag des Generalquartiermeisters (zuständig u.a. für die Verpflegung der Fronttruppen) erstellter Bericht der Militärverwaltung im September 1915 (317). Diese Direktive verdeutlicht sowohl die enge Verknüpfung zwischen der Versorgungslage in der Heimat und jener in den okkupierten Territorien wie auch die Tatsache, dass Hunger zu einer der „wirksamsten Waffen, die während des Ersten Weltkriegs eingesetzt wurden“ (Anne Roerkohl), zählte. Besonders verhängnisvoll für die französische Zivilbevölkerung wirkte sich der Umstand aus, dass die deutschen Behörden weder über eine klare Strategie noch über effektive Lösungen zur Bewältigung der schwierigen Versorgungslage geboten. Das zeigte sich auch bei der berüchtigten deutschen Anweisung zur Bekämpfung des Hungers im Etappengebiet, die zu internationalen Protesten und offiziellen Demarchen neutraler Staaten führte: die Deportationen von Arbeitern, unter ihnen zahlreiche Frauen mit ihren Kindern, an Ostern 1916 aus dem Städtedreieck Lille, Roubaix und Tourcoing aufs Land in der allerdings verfehlten Hoffnung, diese dort besser zu ernähren und die Städte so zu entlasten. Bei den oftmals unter menschenunwürdigen Umständen durchgeführten Wegführungen aus dem Etappengebiet Nordfrankreich wie zeitgleich auch aus dem besetzten Belgien starben 2.614 Menschen. Die von der Autorin hierzu angebotene Interpretation, dass es den deutschen Behörden vornehmlich darum gegangen sei, „Gewaltdynamiken wieder einzufangen“ mutet allerdings reichlich abstrakt an, zumal es sich bei den Deportationen um einen eklatanten Völkerrechtsbruch handelte.

Eine noch größere Hungerkatastrophe wurde nur durch die Zulassung neutraler Hilfe aus der Schweiz, Spanien, den Niederlanden sowie bis 1917 auch den USA verhindert. Deutsche Aktionen, etwa die Versorgung der Menschen aus Heeresbeständen oder die geradezu zynisch anmutende Abschiebung „unnützer Esser“ über die französischen Linien, darunter Alte und Kranke sowie mittellose Frauen, deren Männer im Krieg waren, blieben weitgehend Stückwerk. Dennoch wurden bis Kriegsende etwa eine halbe Million Menschen in Sammeltransporten nach Frankreich abgeschoben. Allerdings, ohne die teilweise erheblichen Leistungen der neutralen Hilfsorganisationen, allen voran die zunächst nur im besetzten Belgien tätige Commission for Relief in Belgium sowie später das Comité Hollandais de Ravitaillement du Nord de la France wäre die Lebensmittelversorgung für Nordfrankreich noch desaströser ausgefallen als sie es ohnehin schon war. Larissa Wegner beschreibt deren Arbeit und die sie begleitenden politischen Hindernisse und temporären Blockaden von deutscher, aber auch von alliierter Seite, ebenso kenntnisreich wie nachdenklich. Die von ihr festgestellte, durchaus einvernehmliche Zusammenarbeit zwischen den neutralen Hilfsorganisationen und den deutschen Behörden zum Nutzen der Zivilbevölkerung gehört zu den bislang kaum erforschten Themen der Besatzungsgeschichte.

Zu den bislang eher vernachlässigten Themen einer „Occupatio Bellica“ gehört auch die von den Besatzern oktroyierte Zwangsarbeit in den vom Militär kontrollierten nordfranzösischen Kriegs- und Etappengebieten. Aufschlussreich ist hier der Vergleich mit dem, stets mit Deportationen nach Deutschland einhergehenden, „Arbeitseinsatz“ belgischer oder osteuropäischer Arbeiter. Zurecht weist die Autorin darauf hin, dass der eher diffuse Begriff Zwangsarbeit durchaus abweichende Interpretationen zulässt. Er reichte von notgedrungener Freiwilligkeit aufgrund der Erwerbssituation bis hin zu drastischen, strafbewehrten Zwangsmaßnahmen; auch die HLKO gestattete nicht näher definierte „Dienstleistungen für die Bedürfnisse des Besatzungsheeres“. Der von der Militärverwaltung bereits 1914 verhängte Arbeitszwang umfasste Erntearbeiten, den Einsatz von sogenannten „Arbeiter-Kompanien“ zu unterschiedlichen Tätigkeiten bis hin zu von der HLKO strikt untersagten „Kriegsunternehmungen“ in der Nähe der Front, wie Schanzarbeiten oder Munitionstransporte. Zu den zwischen Zwang und Freiwilligkeit changierenden Arbeitsstätten gehörten aber auch die kaum bekannten „Frauenheime“, in denen häufig geschlechtskranke Frauen – die deutsche Soldaten angesteckt hatten – als Wäscherinnen, Büglerinnen oder Näherinnen für das Militär arbeiteten. Angesichts der von der Besatzung oftmals ergriffenen Zwangsmittel konnten Arbeitsverweigerungen und offene Streiks nicht ausbleiben, wie die „affaire des sacs“ zeigte. Ausgehend von der Stadt Roubaix kam es zwischen Mai und Juli 1915 zu massiven Arbeitsniederlegungen wegen der Herstellung und Lieferung von Sandsäcken für deutsche Befestigungsanlagen. Die keineswegs nur aus patriotischen Erwägungen begonnenen Streiks breiteten sich auf weitere Orte aus und führten zu öffentlichen Unruhen, deren sich die Militärverwaltung nur mit drakonischen Strafen zu erwehren vermochte.

Die Bildung der 3. Obersten Heeresleitung im Spätsommer 1916 führte zu einer weiteren Verschärfung des Arbeiter-Zwangssystems in Nordfrankreich. Mit einem ausgeklügelten System „aus Zwang und Anreiz“ gedachte man die bisherigen Rücksichtnahmen und Restriktionen aufzuheben, um so die schon bisher praktizierte Zwangsarbeit erheblich auszuweiten und sie durch eine, wie die Autorin es nennt, „fragwürdige“ Rechtsgrundlage zu legitimieren. Mit der Verfügung eines „allgemeinen Arbeitszwangs“ und der Errichtung von „Zivil-Arbeiter-Bataillonen“ (Z.A.B.) für über 17 Jahre alte männliche Franzosen sollten nunmehr auch vermehrt „Kriegsunternehmungen“, also eigentlich nicht zugelassene Arbeiten in unmittelbarer Frontnähe, möglich sein. Eine wesentliche Rolle spielten hierbei die Arbeiten an der „Siegfried-Stellung“. Auch wenn dem zwangsweisen Arbeitseinsatz sicherlich kein „inhumaner Wille“ (Michael Geyer) zugrunde lag, so sprechen doch die katastrophalen Verhältnisse in den Arbeitslagern der Z.A.B. mit ihren zahlreichen Todesfällen eine eigene Sprache. Daran änderte sich bis Kriegsende nur wenig.

Larissa Wegners „Versuch“, wie sie ihre Studie abschließend bescheiden nennt, die Geschichte der Besatzungspraxis in Nordfrankreich aus der Perspektive der Okkupationsmacht zu schreiben, ist nachhaltig gelungen. Dabei rückt die Sicht auf die in einer vier Jahre dauernden Besatzungszeit leidvoll geprüfte Zivilbevölkerung, die Gewalt und deren Auswirkungen auf die Menschen, die Opferperspektive, keinesfalls in den Hintergrund. Erst durch die Analyse der deutschen von Widersprüchen, Irrtümern und Entgrenzungen geprägten Besatzungspolitik werden die Dynamiken der Gewalt evident. Ein stets mit Blick auf die Heimat geführter Wirtschaftskrieg, der mit rücksichtsloser Ausbeutung aller vorhandenen Ressourcen und brutaler Zwangsarbeit einherging, wurde dabei zu einem bestimmenden Faktor der Besatzungsherrschaft. Zugleich überrascht, wie intensiv sich die Inhaber der Befehlsgewalt im Etappengebiet mit kriegsrechtlichen Fragen, etwa den Bestimmungen der HLKO, zur Rechtfertigung ihrer Anordnungen und Maßnahmen befassten. Schlussendlich bestimmten dennoch die „militärische Notwendigkeit“, in der Regel also ein rücksichtsloses Kontroll- und Sicherheitsdenken, sowie der oftmals eingeforderte politische wie wirtschaftliche Nutzen für die Besatzungsmacht die deutschen Entscheidungen. Die von der Verfasserin eingangs gestellte Frage nach den Ursachen der Gewalt in diesem ersten modernen Massenkrieg erhält somit ihre definitive Antwort.

Larissa Wegner, Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich, 1914–1918, Wallstein-Verlag, Göttingen 2023 (Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts 36), 522 S., ISBN 978-3-8353-5370-1, 48,00 €.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Christian Th. Müller.

Zitierempfehlung: Gerhard Hirschfeld, Rezension zu: Larissa Wegner, Occupatio Bellica. Die deutsche Armee in Nordfrankreich 1914–1918, in: Portal Militärgeschichte, 20. November 2023, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.20.11.2023

Regionen: